Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 18.4.2024, C-68/23 (Finanzamt O)

Einzweck-Gutschein, Mehrzweckgutschein, Vertriebskette, Vertrieb von Gutscheinkarten über das Internet, Steuerbarkeit

Praxisproblem
Der BFH hatte den EuHG mit Vorabentscheidungsersuchen v. 3.11.2022 (XI R 21/21) zur Besteuerung von Gutscheinen aufgrund der seit dem 1.1.2019 geltenden Rechtslage befragt. Es ging im Wesentlichen um die Frage, ob ein Gutschein, der zur Inanspruchnahme einer elektronischen Dienstleistung berechtigt, ein Einzweckgutschein ist, wenn die Gutscheine vorher zwischen Unternehmen (auch grenzüberschreitend) übertragen wurden. Im vorliegenden Verfahren stand der finale Dienstleistungsort fest, weil im Sachverhalt des Ausgangsverfahrens die Gutscheine nur von Endverbrauchern in einem bestimmten Mitgliedstaat eingelöst werden konnten. 
Fraglich war also, ob ein Einzweckgutschein nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Einlösung definiert wird, oder nach den Verhältnissen bei jeder Übertragung. 

Sachverhalt
Die Beteiligten stritten darüber, ob die Übertragung von Guthabenkarten oder Gutscheincodes für den Erwerb digitaler Inhalte für das X-Network (X), sog. X-Cards, der Umsatzsteuer unterliegt. Die Klägerin, eine BGB-Gesellschaft, vertrieb im Streitjahr 2019 über ihren Internetshop Guthabenkarten oder Gutscheincodes zum Aufladen von Nutzerkonten für X. Herausgeber der X-Cards war im Streitjahr der Unternehmer Y mit Sitz in London. Die Gutscheincodes ermöglichten dem Erwerber die Aufladung seines X-Nutzerkontos mit einem näher bestimmten Nennwert in EUR. Nach der Kontoaufladung konnten vom Kontoinhaber im X-Store von Y digitale Inhalte zu den dort angeführten Preisen erworben werden. Die X-Cards wurden von Y mit unterschiedlicher Länderkennung über verschiedene Zwischenhändler vertrieben. Für Kunden mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort im Inland und einem deutschen X-Nutzerkonto war die Kennung DE vorgesehen. 

In 2019 bezog die Klägerin die X-Cards der Y von Lieferanten aus dem übrigen Gemeinschaftsgebiet (L1 und L2) unter Angabe ihrer USt-IdNr. L1 und L2. Die Lieferanten waren weder im Vereinigten Königreich noch im Inland, sondern in anderen Mitgliedstaaten ansässig und hatten die X-Cards zuvor von Y erworben. Die Klägerin erfasste in ihren Steueranmeldungen weder den Erwerb der X-Cards von L1 und L2 noch die Übertragung der X-Cards an die Endkunden (Endverbraucher). Sie ging davon aus, dass es sich bei den X-Cards lediglich um Wert- oder Mehrzweck-Gutscheine handele. Bei der Veräußerung der X-Cards sei der Wohnsitz oder der Ansässigkeitsort des Endkunden nicht sicher bekannt, so dass der Leistungsort gemäß § 3a Abs. 5 UStG nicht sicher bestimmbar sei. Die von Y den jeweiligen Gutscheinen zugewiesene Länderkennung reiche zur sicheren Bestimmung des Leistungsorts nicht aus, da Y die Angaben der Kunden bei der Eröffnung der X-Nutzerkonten und deren spätere Nutzung nicht überprüfe. Eine Vielzahl im Ausland ansässiger X-Kunden hätte u.a. aufgrund von Preisvorteilen ein deutsches Nutzerkonto eröffnet und ebenfalls bei ihr, der Klägerin, Karten mit der Kennung DE eingekauft.

Das FA sah die Umsätze der Klägerin mit X-Cards als im Inland steuerbar an, weil diese mit der Kennung DE von Y ausschließlich für Endkunden mit Wohnsitz im Inland und einem deutschen Nutzerkonto bestimmt seien, weshalb sich der Leistungsort gemäß § 3a Abs. 5 UStG im Inland befinde. Dass Erwerber mit Wohnsitz im Ausland die vorgegebene regionale Nutzungsbeschränkung durch bewusst wahrheitswidrige Angaben, Missachtung der Nutzungsbedingungen von Y und/oder Verschleierung ihrer IP-Adresse möglicherweise umgehen könnten, sei nicht ausschlaggebend für die steuerrechtliche Einordnung des Gutscheins; es sei vielmehr Sache der Klägerin dafür Sorge zu tragen, Karten mit der Kennung DE nicht an Kunden mit Wohnsitz im Ausland zu verkaufen. Für die Einordnung der Karten als Waren- oder Einzweck-Gutscheine spreche auch, dass Y die Karten als solche in den Verkehr gebracht habe und diese in der weiteren Leistungskette von allen anderen Beteiligten auch so behandelt worden seien. Allerdings nahm das FA Umsätze von X-Cards der Kennung DE, die an Kunden mit Wohnsitz im Ausland ausgegeben wurden, von der Besteuerung aus.

Entscheidung
Der EuGH hat entschieden, dass die Einstufung eines Gutscheins als „Einzweck-Gutschein“ im Sinne von Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL nur von den in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen abhängt. Eine dieser Voraussetzungen ist, dass der Ort der Erbringung der Dienstleistung, die sich an Endverbraucher richtet und auf die sich dieser Gutschein bezieht, zum Zeitpunkt der Ausstellung dieses Gutscheins feststehen muss, und dies unabhängig davon, ob dieser Gutschein zwischen Unternehmern übertragen wird, die im eigenen Namen handeln und in anderen Mitgliedstaaten als demjenigen ansässig sind, in dem sich diese Endverbraucher befinden.

Weiter hat der EuGH entschieden, dass nach Art. 30b Abs. 2 MwStSystRL der Weiterverkauf von „Mehrzweck-Gutscheinen“ im Sinne von Art. 30a Nr. 3 MwStSystRL durch einen Unternehmer der MwSt unterliegen kann, sofern er als Dienstleistung an den Unternehmer eingestuft wird, der als Gegenleistung für diese Gutscheine die Gegenstände tatsächlich dem Endverbraucher übergibt oder die Dienstleistungen tatsächlich dem Endverbraucher erbringt.

Praxishinweis
Die Entscheidung des EuGH zum Begriff des Einzweck-Gutscheins bedeutet: wenn die Voraussetzungen gemäß Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL für einen solchen gegeben sind (d.h. Ort der Leistung, die durch den Gutschein verkörpert wird, und die Höhe der dafür geschuldeten MwSt stehen zum Zeitpunkt der Ausstellung des Gutscheins fest), ändert sich an der Einordnung des Gutscheins als Einzweck-Gutschein nichts dadurch, dass ein solcher Gutschein vor seinem Verkauf an einen Endverbraucher in einer Kette zwischen Unternehmern (ggf. auch grenzüberschreitend) verkauft wird. Gemäß Art. 30b Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL gilt jede Übertragung eines Einzweck-Gutscheins durch einen Unternehmer, der im eigenen Namen handelt, als eine Lieferung der Gegenstände oder Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht. Die tatsächliche Übergabe der Gegenstände oder die tatsächliche Erbringung der Dienstleistungen, für die ein Einzweck-Gutschein als Gegenleistung oder Teil einer solchen von dem Lieferer oder Dienstleistungserbringer angenommen wird, gilt nicht als unabhängiger Umsatz. Diese Vorschrift kann die Voraussetzungen für einen Einzweck-Gutschein gemäß Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL nicht in Frage stellen. Dies bedeutet im Ergebnis, dass für die Frage, ob ein Einzweck- oder Mehrzweck-Gutschein vorliegt, ausschließlich auf den Zeitpunkt der (erstmaligen) Ausgabe des Gutscheins abzustellen ist, und es nicht auf den Zeitpunkt einer späteren Übertragung in einer Handelskette ankommt.

Der BFH muss schlussendlich entscheiden, ob im Streitfall unter den Voraussetzungen von Art. 30a Nr. 2 MwStSystRL Einzweck-Gutscheine vorlagen. Hierzu gibt der EuGH dem BFH Entscheidungshilfen. Was das Feststehen des Orts der Leistung der mit den X-Cards verkörperten Leistungen betrifft, zeigt sich für den EuGH insbesondere aufgrund der auf den X-Cards angebrachten Kennung des Mitgliedstaats, in dem die Karten benutzt werden müssen, dass sich der Ort, an dem die verkörperten (elektronischen) Dienstleistungen erbracht werden, hinsichtlich der von der Klägerin an Endkunden verkauften X-Cards in Deutschland befindet. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn nicht-deutsche Endkunden unter Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen die X-Cards von der Klägerin erwerben würden. Die angemessene Einstufung eines Umsatzes für die Zwecke der MwSt darf, so der EuGH, nicht von etwaigen missbräuchlichen Praktiken abhängen. Zu der Frage, ob die 2. Voraussetzung für das Vorliegen eines Einzweck-Gutscheins erfüllt ist (Feststehen der Höhe der geschuldeten Steuer) hat sich der EuGH nicht festgelegt. Dies muss alleine der BFH entscheiden. Der EuGH führt dazu nur aus, dass für den Fall, dass in Deutschland die (elektronische) Dienstleistung, die als Gegenleistung für eine X-Card erbracht wird, unabhängig von dem empfangenen digitalen Inhalt derselben Bemessungsgrundlage und demselben Steuersatz unterliegen, die Voraussetzung hinsichtlich der Höhe der geschuldeten USt erfüllt wäre.

Der EuGH hatte bereits in seinem Urteil v. 28.4.2022, C-637/20, DSAB Destination Stockholm, entschieden, dass Art. 30b Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSystRL i.Vm. Art. 73a MwStSystRL verhindern sollen, dass Vertriebs- oder Absatzförderungsleistungen bezogen auf Mehrzweck-Gutscheine nicht besteuert werden, indem sichergestellt wird, dass die MwSt auf jede Handelsspanne erhoben wird. Daraus folgt, dass in Bezug auf die X-Cards des Ausgangsverfahren, sofern sie denn als „Mehrzweck-Gutscheine“ im Sinne von Art. 30a Nr. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie einzustufen wären, nicht auszuschließen ist, dass die Klägerin beim Weiterverkauf dieser Gutscheine dem Unternehmer, der als Gegenleistung für die Gutscheine tatsächlich elektronische Dienstleistungen an den Endverbraucher bewirkt (hier Y), eine gesonderte Dienstleistung wie etwa eine Vertriebs- oder Absatzförderungsleistung erbringen kann. Es ist Sache des BFH zu prüfen, ob die Umsätze der Klägerin als solche einzustufen sind. Das vom BFH in seinem Vorabentscheidungsersuchen zitierte EuGH-Urteil v. 3.5.2012, C-520/10, Lebara, ist hierbei nicht einschlägig. Dieses bezog sich auf ein Streitjahr, in dem die Neuregelungen zu den Gutscheinen noch nicht galten und auf im Voraus bezahlte Karten für Telekommunikationsdienstleistungen, die, so der EuGH, nach heutiger Sicht als Einzweck-Gutscheine (und nicht als Mehrzweck-Gutscheine) aufzufassen wären.

Sollte der BFH zu der Auffassung kommen, dass zum Zeitpunkt der Ausgabe der X-Cards durch Y diese als Einzweck-Gutscheine zu beurteilen waren, würde das FA in seiner Auffassung bestätigt, dass die Umsätze der Klägerin mit X-Cards als im Inland steuerbar anzusehen sind, weil diese mit der Kennung DE von Y ausschließlich für Endkunden mit Wohnsitz im Inland und einem deutschen Nutzerkonto bestimmt sind, weshalb sich der Leistungsort gemäß § 3a Abs. 5 UStG im Inland befindet. 

Im Übrigen hat der EuGH indirekt bestätigt, dass alle Verkäufe eines Einzweck-Gutscheins in einer Handelskette zum gleichen Ergebnis hinsichtlich des Besteuerungsorts führen müssen. Wird, wie im Ausgangsverfahren, (unterstellt) z.B. ein Einzweck-Gutschein ausgestellt, der eine elektronische Dienstleistung an einen Endverbraucher verkörpert, der in Deutschland ansässig ist, ist jeder diesbezügliche Verkauf des Gutscheins (auch grenzüberschreitend) somit über § 3a Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 3 UStG im Inland steuerbar. Die Fiktionsregelung, die bei jeder Übertragung von Einzweckgutscheinen den Vorgang als Ausführung der zugrundeliegenden Lieferung oder sonstigen Leistung behandelt, gilt auch für grenzüberschreitende Sachverhalte. Dies hat zur Folge, dass ein ausländischer Verkäufer (wie im Ausgangsverfahren L1 und L2) entsprechender Gutscheine für in Deutschland zu erbringende sonstige Leistungen in Deutschland registrierungspflichtig oder umgekehrt ein inländischer Verkäufer für in einem anderen EU-Mitgliedstaat zu erbringende sonstige Leistungen dort registrierungspflichtig wird, sofern nicht von dem OSS-Verfahren Gebrauch gemacht wird. 

 

Quelle

Urteil vom 18.4.2024, C-68/23 (Finanzamt O)

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