Anmerkung zu BFH-Beschluss v. 15.9.2021, XI R 12/21 (XI R 25/19)

Ermäßigter Steuersatz, Verkauf von Backwaren in Bäckereifilialen in „Vorkassenzonen“ eines Supermarkts

Praxisproblem

Bei dem Revisionsverfahren  XI R 12/21 (XI R 25/19) ging es um die Frage, welcher Steuersatz auf Umsätze aus dem Verkauf von Speisen, die vor Ort in einer Bäckereifiliale in der „Vorkassenzone“ eines Supermarkts an Tischen auf Geschirr des leistenden Unternehmers (Bäckerei) verzehrt werden, anzuwenden ist.

Sachverhalt


Die Klägerin, eine KG, stellte im Streitjahr 2006 Backwaren aller Art her, vertrieb diese und betrieb Konditoreien und Cafés. In insgesamt 84 ihrer Filialen stellte sie Tische und Bestuhlung bereit, wobei sich Tische und Stühle überwiegend innerhalb dieser Filialen, ganz vereinzelt aber zusätzlich auch im Freien befanden. 71 der streitbefangenen Filialen befanden sich in sog. Vorkassenzonen (nicht durch geschlossene Wände abgetrennte Eingangsbereiche) von Lebensmittelmärkten. 13 Filialen waren separat betriebene Ladengeschäfte. In allen 84 Filialen erfolgte die Ausgabe der zum Verzehr vor Ort bestimmten Waren und Speisen an den Kunden grundsätzlich direkt am Verkaufstresen. Das Abräumen der (teilweise mit Tischdecken und Blumenschmuck versehenen) Tische oblag in der Regel den Kunden, wobei zur Rücknahme des ausgegebenen Geschirrs Regale bereitstanden, die grundsätzlich durch die Kunden zu befüllen waren. Wenn die Kunden das Abräumen der Tische unterließen, räumte das Personal der KG das Geschirr von den Tischen. Anschließend wurde das Geschirr von Arbeitnehmern der KG gereinigt, die ausschließlich als Verkaufspersonal für Backwaren und nicht als Kellner, Koch oder gastronomisch ähnlich qualifiziertes Fachpersonal angestellt waren.

Das FA war davon ausgegangen, dass die KG zu Unrecht auf die Umsätze aus dem Verkauf der vor Ort verzehrten belegten Brötchen und Kuchenteile den ermäßigten Steuersatz angewandt habe. Die KG machte geltend, nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils „Bog“ v. 10.3.2011, C-497/09, C-499/09, C-501/09 und C-502/09 (BStBl II 2013, 256) handele es sich beim Verkauf der in den Filialen zum Verzehr an Ort und Stelle bestimmten Waren um ermäßigt zu besteuernde Lieferungen von Nahrungsmitteln.

Das FG Münster hatte mit Urteil v. 3.9.2019, 15 K 2553/16 U (EFG 2019, 1793) entschieden, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Umsätze aus dem Verkauf von Backwaren und Fast-Food zum Verzehr vor Ort in den mit Sitzgelegenheiten ausgestatteten Filialen der KG nicht vorlägen. Bei einer Gesamtbetrachtung der durch die KG im Falle des Verzehrs vor Ort erbrachten Leistungselemente stünden die Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Speisen im Vordergrund.

Entscheidung


Der BFH hat die Revision als unbegründet zurückgewiesen. Er bezieht sich auf die nach seiner Auffassung auf das Streitjahr ebenfalls bereits zu berücksichtigende Vorschrift des Art. 6 MwSt-DVO. Danach gilt die Abgabe zubereiteter oder nicht zubereiteter Speisen und/oder von Getränken, zusammen mit ausreichenden unterstützenden Dienstleistungen, die deren sofortigen Verzehr ermöglichen, als (Restaurant- und Verpflegungs-)Dienstleistung. Restaurantdienstleistungen sind die Erbringung solcher Dienstleistungen in den Räumlichkeiten des Dienstleistungserbringers. Die Abgabe von Speisen und/oder Getränken ist dabei nur eine Komponente der gesamten Leistung, bei der der Dienstleistungsanteil überwiegt (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 MwSt-DVO). Die Abgabe von zubereiteten oder nicht zubereiteten Speisen und/oder Getränken mit oder ohne Beförderung, jedoch ohne andere unterstützende Dienstleistungen, gilt nicht als Restaurant- oder Verpflegungsdienstleistung (Art. 6 Abs. 2 MwSt-DVO).

Der BFH bezieht in seine Entscheidung auch das EuGH-Urteil v. 22.4.2021, C-703/19, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Katowicach ein. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Einschätzung des FG revisionsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Das FG hatte angenommen, bei einer Gesamtbetrachtung der durch die KG im Falle des Verzehrs vor Ort erbrachten Leistungselemente stünden die Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Speisen im Vordergrund. Die KG habe den Kunden nicht nur Backwaren und Fast-Food verkauft, sondern diesen gegenüber auch zusätzliche Dienstleistungen erbracht, indem sie neben der Zubereitung der standardisierten Produkte zum Verzehr der Speisen Tische und Sitzmöglichkeiten sowie Tassen, Geschirr und Besteck zur Verfügung gestellt habe und sowohl das Mobiliar als auch das Geschirr gereinigt habe. Das in und um die angemieteten Filialen durch die KG aufgestellte Mobiliar sei sowohl aus objektiver Empfängersicht als auch nach den objektiven Gegebenheiten ausschließlich zur Nutzung durch die Kunden der KG bestimmt gewesen. Aufgrund dieser durch die KG erbrachten Dienstleistungen (Verzehrvorrichtungen, Serviceleistungen, Geschirrstellung) trete der Dienstleistungscharakter in den Vordergrund, obwohl in einigen Filialen der KG keine Garderoben und Toiletten vorgehalten worden seien und überdies kein Kellnerservice (im Sinne einer Bedienung am Sitzplatz) bestanden und es an einer völligen räumlichen Trennung der Vorkassenfilialen von den Vorkassenbereichen der Lebensmittelmärkte, in denen sie untergebracht waren, gefehlt habe. Durch die Gestellung von Tischen und Stühlen, Geschirr und teilweise auch Dekoration sowie die Erbringung von Reinigungsleistungen im Hinblick auf diese Gegenstände sei die Gesamtleistung der KG aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers dennoch als Restaurationsleistung und damit Dienstleistung zu qualifizieren. Der personelle Einsatz könne (insbesondere im Vergleich zu dem erforderlichen personellen Einsatz im Falle eines Außer-Haus-Verkaufes) nicht mehr als nur geringfügig angesehen werden. Denn die Reinigung des Geschirrs, der Tische und Stühle sowie das Aufbringen der Dekoration gehe deutlich über die Herstellung, Zubereitung und den Verkauf der zum Verzehr vor Ort bestimmten Backwaren hinaus und binde Arbeitskraft. Dass die Kunden der KG deren Angestellten im Regelfall kein Trinkgeld gewährt hätten, führe zu keinem anderen Ergebnis der Gesamtabwägung; denn die Gewährung von Trinkgeld sei keine konstitutive Voraussetzung für die Annahme einer Dienstleistung.

Praxishinweis

Insgesamt hat der BFH an seiner bisherigen Rechtsprechung zur Abgrenzung steuerermäßigter Lieferungen von Speisen und dem Regelsteuersatz unterliegenden Restaurantdienstleistungen festgehalten. Schon die Bereitstellung von Mobiliar und Geschirr kann ausreichen, soweit Speisen nicht über einen Speisesaal mit Nebenräumen (Garderobe, Toilette etc.) abgegeben werden. Ein imbissartiger Charakter und das Fehlen geschlossener Räume widerspricht der Anwendung des Regelsteuersatzes schon deshalb nicht, weil die Umsätze eines Imbissstands, der seinen Kunden standardisiert zubereitete Speisen zum Verzehr an einem Tisch mit Sitzgelegenheiten verkauft, schon nach bisheriger BFH-Rechtsprechung dem Regelsteuersatz unterliegen. Ob die Kosten der Umsätze von der Dienstleistung geprägt sind oder vom Einkaufspreis, ist unbeachtlich, weil nicht nur die quantitative, sondern auch die qualitative Bedeutung der Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Gegenständen zu bestimmen ist. Welchen prozentualen Anteil an dem von dem jeweiligen Kunden zu zahlenden Gesamtpreis die zur Zubereitung der Speisen eingesetzten Lebensmittel hatten, ist für die Gesamtwürdigung nicht von entscheidender Bedeutung. Aktuell sind ist durch das Corona-Steuerhilfegesetz der ermäßigte Steuersatz auf Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen, mit Ausnahme der Abgabe von Getränken bis zum 31.12.2022 anzuwenden. Eine Verlängerung der temporären Ermäßigung ist derzeit nicht absehbar. Die ständigen Abgrenzungsprobleme zeugen dennoch von der Notwendigkeit, sich als betroffener Unternehmer mit der Abgrenzung – nicht nur für Getränke – zu befassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

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